"Leichen aufschnibbeln(?)" - Der Präpkurs (Anatomie)

Freitag, März 31, 2017

Das erste Mal, dass ich einen Leichnam sah, war während meines Krankenpflegepraktikums. Ein blutüberströmter Körper, weit herausragende weiße Augäpfel und viel Panik bei den überforderten Ärzten, die den Patienten nicht mehr retten konnten und die Frau des Patientens schnell aus dem Zimmer bringen mussten.
Das zweite Mal, dass ich einen Leichnam sah, war während des Präparierkurses an der Universität. Auf einer glänzenden metallischen Ablage lag der Leichnam seelenruhig. Die Haut war etwas gelblich, aber es war kein Blut zu sehen. Keine Augen, die nach hinten rollen und nicht mehr zu Vorschein kommen. Keine Panik, sondern Totenstille.



Als Zahnmedizinstudent muss man an den meisten Unis den anatomischen Bereich "Extremitäten" nicht lernen, sodass die Zahnmediziner erst am Körperspender präparieren, sobald die Organe erreicht werden. Ich hatte allerdings das Glück, die komplette Anatomie lernen zu dürfen und durfte dadurch auch von Beginn an am Präpkurs teilnehmen.



Der erste Kontakt

Der Präpariersaal war ein großer, heller Raum, ausgekleidet mit einem Dutzend metallischer Tische, auf denen sich unter den weißen Laken die Form eines Menschenkörpers abbildete. Die Studenten wurden in Gruppen eingeteilt und zu zehnt stellten wir uns vor einen Leichnam.
Als das Laken entfernt wurde, wusste ich nicht, wie ich meine Gedanken ordnen soll. Das erste, was ich sah, war, dass der Leichnam nackt war. Das zweite, was mir auffiel, war, dass der Schädel komplett rasiert war. Die dritte Sache, die ich bemerkte, war, dass es überhaupt nicht übel roch. Es gab keinen Geruch der Verwesung, sondern es roch nach Formaldehyd, ein Fixierungsmittel, das zur Konservierung der anatomischen Präparate verwendet wird.
Überwältigt von all diesen ersten Eindrücken, starrte ich den Leichnam minutenlang an. Es war kaum zu glauben, dass vor uns ein Mensch lag. Ein Mensch, der gelebt hat, vielleicht eine Familie hatte, die ihn geliebt hat, Kinder hat, die ihn vermissen. Und jetzt lag dieser Mensch vor uns. Ruhig, als würde er schlafen. Und wir Studenten waren kurz davor, ihn einfach aufzuschneiden und auseinanderzunehmen. Ist das nicht moralisch verwerflich?
Doch dieser Mensch, der vor uns lag, ist nicht irgendein Mensch. Nein, diese Person hat sich dazu entschieden, Körperspender zu werden. Nach seinem Tod anderen Menschen zu helfen, und zwar gibt er uns seinen Körper zur Verfügung. Er möchte, dass junge, unerfahrene, angehende Ärzte gut ausgebildet werden, um später anderen Menschen helfen zu können. Körperspender spielen noch nach ihrem Tod eine große Rolle in unserer Gesellschaft und opfern ihren Körper der Wissenschaft.

Ich benutze in diesem Kontext das Wort "opfern", da es ein langwieriger Prozess zwischen dem seelischen Tod bis hin zur Bestattung des Körpers ist. Sobald ein Körperspender stirbt, muss der Körper schnell zur Universität gebracht werden, damit der Körper fixiert werden kann, bevor z.B. sich das Gehirn verflüssigt. Für die Angehörigen bedeutet das, sobald sie den Tod des Körperspenders festgestellt haben, dass sie schnell die Universität kontaktieren müssen - und dann mindestens 1,5 Jahre warten müssen. Bis ein Körperspender bereit für den Präperierkurs ist, vergeht meistens ein Jahr. Die Studenten präparieren ein Semester lang den Körper und anschließend werden die Körperspender eingeäschert und bei einer Trauerfeier bestattet. Von den Angehörigen wird verlangt, sich nicht richtig vom Körperspender verabschieden zu können und nach knapp zwei Jahren alte Wunden wieder aufzumachen und zu trauern. Sowohl den Körperspendern als auch deren Angehörigen gebühre ich hiermit meinen größten Respekt.



Der Präpkurs

Ein Skalpell ist kein besonders großes chirurgisches Instrument. Und doch legen die Studenten mit diesem Instrument Stück für Stück den menschlichen Körper frei. Beim ersten Schnitt in die Haut hatte ich ehrlich gesagt Angst, dass mein Körperspender vor Schmerzen aufschreit. Ich wusste zwar, dass er bereits verstorben ist, aber trotzdem... es ist ungewöhnlich, einfach so in einen Menschenkörper zu schneiden. Spätestens wenn man bemerkt, dass aus der Schnittwunde kein Blut austritt, versteht man, dass der Leichnam wirklich tot ist. Tot, aber trotz dessen irgendwie nicht leblos. Ich verstand, dass es am Gesicht lag. Am Körper zu präparieren kostete keine Überwindung. Es ist ein Körper, der Stück für Stück untersucht wird. Wie, als wäre man auf der Suche nach einer Krankheit, um beispielsweise einen bösen Tumor herauszuschneiden und die Person zu heilen. Doch sobald man in Richtung Gesicht geschaut hat, wurde es sehr gruselig. Jederzeit erwartete ich, dass der Körperspender plötzlich seine Augenlider aufschlägt und mich entsetzt anstarrt. Mir wurde bewusst, dass das "menschlichste" am Körper das Gesicht ist. Das ist ja auch verständlich. Kommunikation verläuft zum Großteil über Augenkontakt und der Sprache. Gefühle werden über die vielen kleinen Muskeln auf unserem Gesicht verdeutlicht. Die Vielfalt einer Persönlichkeit wird eben über das Gesicht zum Ausdruck gebracht.
Unsere Tutoren haben den Kopf des Körperspenders mit dem Laken immer abgedeckt. Nicht, um ihm seine Menschlichkeit zu nehmen, sondern eher, um sie zu bewahren. Etwa nach dem Motto "Der Kopf soll ruhen, während wir uns um den Körper kümmern."

Das Präparieren selber ist sehr spannend. Voller Ehrfurcht schneidet man die Haut des Körperspenders weg, zupft die Muskeln vom Fett frei (das dauert seeehr lange), öffnet die Muskeln, um zu den Organen zu kommen und befreit die Organe vom Fett. Es ist so beeindruckend, ein echtes Herz in den Händen zu halten! Und diese großen Lungen, die wie ein seltsamer Schwamm aussehen! Aber die Leber ist noch viel größer und schwerer! Wie das alles mit dem Darm, der Bauchspeicheldrüse, der Milz, den Nieren, und und und in den Körper passt, das war so faszinierend!
Bis Weihnachten hatten wir den Körper bis auf die Knochen untersucht und zum Neujahr wurde der Körperspender "geköpft". Am unteren Hals wurde alles durchtrennt, sodass wir uns nur noch einem Kopf und Hals gegenüberstanden. Sehr seltsam. Es erinnerte einen an Filme, die zu früheren Zeiten spielen, bei denen brutale Angriffe vorgenommen werden, sobald nicht jeder nach der Pfeife der Angreifers tanzt, und bei denen schnell mal die Köpfe mit einem Schwerthieb abgetrennt werden. Nur handelt es sich beim Körperspender im Gegensatz zum Film um einen echten Kopf, der aber nicht voller Rachelüste abgetrennt wurde. Also, selbst wenn der Kopf des Körperspenders gruselig wirkt, so ist dieser einfach wie der restliche Körper zuvor mit Respekt und Ehre zu behandeln und zu untersuchen.
Für Zahnmediziner ist dies natürlich der wichtigste Bereich. Die Kopf/Hals-Anatomie zu beherrschen ist essentiell für den späteren Beruf. Im Mund konnten wir leider kaum mehr als die Zunge richtig erkennen, da der Kopf sagittal durchtrennt wurde und es schon recht schwierig war, die einzelnen Strukturen richtig zu identifizieren. Am spannendsten fand ich das Auge, da man den kompletten Bulbus mit den ganzen Muskeln und den Sehnerven sehen konnte und das Auge selber für mich auch sehr interessant ist. Warum wir sehen, warum wir Farben unterscheiden können, warum wir nachts fast blind sind - das weiß ich nun.



Das alles ist nur durch die Zusammenarbeit zwischen Universität, dem Körperspender und dessen Angehörigen möglich. Dank des Körperspenders können wir die Anatomie auf eine besondere Art und Weise erlernen, die uns allein durch Bücher so nie bewusst geworden wäre. Es ist eine einzigartige Erfahrung, geprägt von Neugierde aber auch Respekt, die dazu beiträgt, dass der Präparierkurs einer der spannendsten Kurse ist.

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1 Kommentare

  1. Danke für den Bericht.
    Ich finde du hast sehr respektvoll geschrieben und trotzdem einen schönen Einblick gegeben.
    Mach weiter so mit deinem Blog, Instagram und deinem Studium.
    Du schaffst das!

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Danke, dass Du dich dazu entschlossen hast, mir einen Kommentar zu hinterlassen. Ich freue mich über jede Meinung! :)

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